Als meine Mutter mir zeigte, wie man ein Kind trägt
Und meine Mutter hat mir immer gezeigt, wie man kleine Kinder richtig im Arm hält,
genau da am Nacken musst du die Hand platzieren, sonst kippt der Kopf weg, er ist doch
viel zu schwer — und wenn ich dich so ansehe, dann denke ich, du musst auch deinen Kopf
halten, der ist doch viel zu schwer, da ist zu viel drin, zu viele Gedanken, zu viel Staub und
viel zu wenig Erinnerung
Wie sah deine Handschrift aus als du noch Tagebuch schreiben konntest?
.Ich sehe deine Zähne (Prothesen), sie sind voller Essensreste, aber ich sage nichts.
Stattdessen lache ich und tue so, als ob es normal ist, dass du mich nicht verstehen kannst
und wir ständig aneinander vorbeireden.
Dass du mich nicht erkennen kannst durch deine glasigen Augen. Wenn man genau hinsieht, zittern deine Linsen und dann schaue ich gerne weg, weil es mir wehtut.
Deine Augen sind ein Meer, in dem man ertrinkt, wenn man zu lange hinschaut und dein Körper ist so üppig und doch so zerbrechlich, da ist nichts, was dich hält, wenn du stolperst und dir — du hältst dir die Ohren zu
Mit dem Kopf durch die Wand
Ja natürlich Opa. Nein, das geht so nicht — Und ja, das muss so sein. Wir können uns leider nicht sehen. Vielleicht das nächste Mal. Ich dich auch. Danke.
Jedes Mal, wenn ich dich sehe, alterst du um Jahrzehnte. Dann gibt es nichts mehr zu tun und nichts mehr zu sagen. Aber Schweigen hilft nicht. Nichts hilft.
Das Meer ein verschwommenes Etwas da sind Stimmen es ist wieder viel zu spät ich sollte schlafen ich sollte aufhören. Und sie bringen uns bei wie man läuft und rennt und gleich danach wie man in der Ecke sitzt und sie bringen uns bei wie man spricht und dann direkt leise zu sein und ich denke darin bin ich gut. Im Stillsein, neben mir sitzt meine angeborene Angst wie etwas Falsches oder zu viel zu sagen und tätschelt mir mit mahnendem Blick auf die Schulter, weil: das was du sagst, das ist dann draußen und das kannst du nicht mehr rückgängig machen — DOCH kann ich, weil: ich reise in der Zeit und kann in die Vergangenheit, nur du weißt es nicht, weil du nicht zeitreisen kannst, also
Was sagst du jetzt?
…………………………………………………………………………………………………
Ich verspanne mich zu sehr, wenn ich schlafe. Wann ich das letzte Mal erholt war?
Weiß ich nicht. Muskeln spannen sich doch an. Ist das nicht normal? Und der Druck auf der Brust, ist das nicht normal? Dass man mal traurig ist
Ist das nicht NORMAL?
Oh, aber wenn man erfolgreich sein will, dann muss man das wohl in Kauf nehmen, oder?
—————————————————————————————————————
Und vor mir wieder dein Gesicht und das Kind weint nun in meinen Armen und ich komme mir vor wie ein Nichtsnutz. Ein Taugenichts. Deutsche Dichter hatten ihre Affären und jeder wusste davon. Das Kind fühlt sich nicht wohl bei dir, denke ich. Wir haben 3:46 Uhr und ich weiß ja, dass das zu spät oder zu früh ist je nachdem, was man zu tun gedenkt.
Das Kind schläft. Das Kind atmet. Das Kind treibt im Meer.
Das sind die Augen meines Opas.
Meine Mutter tritt neben mich und hält mich davon ab ins eiskalte Wasser zu springen.
Nicht doch, sagt sie mit einem tadelnden Blick. Das sind die Augen deines Opas.
Sonst erblindet er. Er sieht so schon viel zu schlecht.
Sie legt den Kopf auf die Seite und ich höre nur das Schreien des Kindes.
Wieso? Mein Opa ist doch lieb. Er wird dem Kind nichts tun.
Meine Mutter ist weg. Ich bin allein am Steg. Ohne Kind, ohne Opa.
…………….
Und vielleicht sollte ich es dabei belassen. Mein Opa ist nur noch eine unscharfe Silhouette am Horizont, das Meer ist ausgetrocknet. Ich frage mich, ob er nun blind ist.
Im Hintergrund tut sich die Erde auf. Es regnet Eiszapfen. Mein Opa rennt auf mich zu und dann weiß ich, das ist er nicht, weil mein Opa nicht rennt, er kann ja nicht mal richtig gehen und wer hält ihn fest, wenn er —
Es ist schon wieder Herbst und ich habe dich noch immer nicht angerufen.
<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>
Ich öffne die Augen und treibe im See.
Das Wasser ist eiskalt. Ich bin durchlässig und bin es doch nicht. Mein Atem ist dumpf, ich: stumm.
Das Wasser hat sich in meine Haut geflüchtet und sie aufgeweicht, sie ist nicht schrumpelig, sondern seltsam vergilbt, könnte man sagen, wenn ich eine Sache wäre oder mein Körper eine Sache wäre, aber das ist jetzt egal, ich treibe im See und werde runtergezogen, meine Haut ist schwer und aus Leder alles zieht an mir nach oben nach unten wo befindet sich der Horizont wo ist die Mitte des Ganzen und wo treffen sich die
Mit dem Kopf in den Händen die Formel des Ganzen berechnen
***************************************************************************
Mein Opa öffnet mir die Tür.
Er freut sich über meinen Besuch. Es gibt Apfelstrudel. Natürlich mit Tee.
Ich decke den Tisch. Mein Opa freut sich über den Kuchen.
Draußen ist es schon wieder dunkel.
Text aus dem Jahr 2021. Öffentlich das ersten Mal am 03.07.2021 im Frankfurter Literaturhaus gelesen.