Haut aus Leder
Die Mittagssonne strahlt stark und unbarmherzig auf mein Gesicht.
In der Luft hängt der Geruch von Benzin, trockener Erde und etwas Verbranntem.
In der Ferne hört man die Rufe von den Männern auf der Baustelle. Eine Mischung aus Ungarisch und Englisch, die ich nicht verstehe.
Ich denke an gestern, als ich noch unschlüssig am Bahnhof meiner Heimatstadt stand und auf den Zug wartete. Die Reklametafeln schienen in grellem Blau über mir und die Menschen eilten hektisch umher. Nie komme ich mir fremder vor, als in den Momenten, in denen ich den Zug zu meinem Vater nehme. Ich kenne nicht viel von der Welt.
Es sind nur 2 Stunden und 22 Minuten mit dem Zug nach Budapest.
4 Stunden und 39 Minuten mit dem Auto, 2 Tage zu Fuß, 1 Tag mit dem Fahrrad und 45 Minuten mit dem Flugzeug. Ein gutes Ziel, einfach und relativ schnell zu erreichen. Immerhin auf demselben Kontinent. Ich habe 5 Worte auf Ungarisch gelernt und wiederhole sie unentwegt in meinen Gedanken. Fremde Worte, mit denen ich mich in Sicherheit wiege.
Mein Vater ist schon immer von Land zu Land gezogen, um auf Baustellen zu arbeiten. Er behauptete ständig, dass er bereits in jedem Land dieser Welt gewesen sei, aber das habe ich nur geglaubt bis ich 10 Jahre alt wurde und seitdem ist es nur ein Scherz, den wir uns hin und wieder erzählen. Früher flehte ich ihn unentwegt an, er solle mir alle Länder aufzählen, aber er sagte dann immer, dass das nicht gehe, er habe im Moment keine Zeit, die Arbeit riefe, die Leute auf der Baustelle bräuchten ihn. Aber bald, bald erzählt er mir alle Geschichten, alle dieser Welt und alle über seine bisherigen Leben.
Es gefiel mir, dass es bei ihm immer ein Morgen, ein Bald geben würde.
Die Zukunft schien sicher, greifbar. Und vor allem einfach.
Mein Vater versteht mich.
Sein Schweiß ist aus Ruß, seine Haut aus Leder, seine Haare aus Stroh, und sein Atem aufgewirbelte Erde. Früher hatten wir dieselbe Hautfarbe und heute ist sie unterschiedlich.
Ich habe immer angeboten, dass ich auch mal auf der Baustelle mithelfen könnte.
Aus Interesse, sagte ich dann. In Wahrheit hatte ich die Hoffnung, dass meine Haut dann auch aus Leder wird, wir uns ähnlicher werden und dann alle erkennen, dass wir irgendwie zusammen gehören.
Die anderen Männer nennen mich immer die Weiße, egal in welchem Land.
Wer ist die kleine Weiße, fragen sie immer mit vorgerecktem Kinn und ich habe ihren Schweiß in der prallen Mittagssonne und den Dreck unter ihren Fingernägeln gesehen. Sie fletschten die Zähne und ihr kehliges Lachen ist heute noch in meinen Ohren.
Ich schaue auf und sehe, wie sich ein paar Männer auf der Baustelle die Hand schütteln und laut grölen. In ihren Händen halten sie braune Glasflaschen, die gelben Helme sitzen schief auf ihren Köpfen, als drohen sie in jedem Moment umzukippen. Ich verstehe viele Sprachen nicht, aber die Sprache des Alkohols ist in jedem Land dieselbe.
Ich warte darauf, dass mein Vater seine Schicht beendet, oder er sich einfach davonstiehlt, weil ich nicht glaube, dass es hier so etwas wie geregelte Arbeitszeiten gibt.
Als er vor mir steht, denke ich, dass seine Haut seit unserem letzten Wiedersehen noch dunkler, noch dicker geworden ist.
Er drückt mir zur Begrüßung die Schulter, ein Stück zu fest, fast so als ob er sich fürchte und ich würde ihn gerne fragen, wovor.
Ich halte die Hand vor mein Gesicht, um ihn besser erkennen zu können. Die Sonne macht die Luft um uns herum mit jeder Sekunde noch sengender, noch wärmer. Sie macht Haut zu Leder.
Aber nein, denke ich im selben Moment, das ist es nicht. So einfach ist das nicht.
Das ist nichts, das von irgendwoher kommt. Nichts, das einem einfach so passieren kann.
Ich blicke zu meinem Vater und er schaut gedankenverloren nach vorne. Er fängt meinen Blick ein und lächelt still. Wir laufen los und lassen die Baustelle hinter uns.
Heute sind es 36 Grad.
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Prosatext aus dem Jahr 2024.
Erschienen in der Anthologie des Jungautorenkollektivs des Frankfurter Literaturhauses.
Zuletzt im Frankfurter Literaturhaus am 03.07.2024 gelesen