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Marathon

I.

21:03 Uhr. 

Ich renne. So schnell, dass mir der Wind ins Gesicht peitscht und Tränen in die Augen treibt. Schnaufend bleibe ich vor dem Imbiss stehen.

Ich komme oft hierher, manchmal nach Mitternacht, wenn meine Mutter mich weckt und ihre Zigaretten haben will. Sie legt dann ihre Hand auf meine Wange und fragt mich flüsternd, ob ich für sie rennen wolle.

Der Geruch nach Lavendel und ihre Berührung verbrennen mich immer wieder aufs Neue.   

Ich verschlafe danach oft und komme zu spät zur Schule, weil ich nach dem Laufen nicht mehr schlafen konnte. 

Aber das ist nicht allzu schlimm, rede ich mir dann immer ein.

Ich liebe meine Mutter.  

Ich hab doch gar keine andere Wahl. 

Aber manchmal, da macht sie mich wütend, ja rasend vor Zorn, da schmeiße ich Gläser gegen die Wände und sie schreit so laut, dass der Nachbar gegen die Haustür hämmert (,,Ich schwöre Ihnen, diesmal hole ich  wirklich die Polizei!’’ (Tut er nie)) und letztlich sinken wir erschöpft auf den kalten Boden und fangen an zu lachen. Aus dem Kichern wird Gelächter, sie fragt mich, ob wir heute auf dem Balkon zu Abend essen wollen und ich sage Ja.

 

Als ich an diesem Abend den Imbiss verlasse, gehe ich nicht sofort nach Hause, sondern biege stattdessen in eine Seitenstraße ab. Wenn man nur schnell genug sei, dann könne man in die Sonne rennen, hat meine Mutter mir früher gesagt. Ich renne auch diesmal, komme aber zu spät, die Sonne ist bereits untergegangen.

Als ich mich umsehe, bemerke ich, dass ich im Stadtgarten angekommen bin. 

Ich sehe Jaron im fahlen Laternenlicht nicht sofort. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und ich erkenne seine Umrisse, seine sehnigen Hände, seine schlaksige Gestalt. Ich erkenne seine abgetretenen Schuhe und die regenbogenfarbigen Ringe unter seinen Augen. Ich will sie berühren und balle die Hände zu Fäusten.

Als ich ihn das erste Mal hier gesehen habe, da war’s Sommer. Er saß auf einer kleinen Mauer und hatte eine Rose in der Hand. Als er mich erblickte, sagte er: Hey, ich hab grad eine Korb kassiert. Also, du weißt schon…

Ich weiß, was ein Korb ist, habe ich ihm das Wort abgeschnitten und die Augen verdreht, er unterdrückte ein Lächeln und ich nahm die Rose. Ich fand sie schön.   

Heute hat er keine Rose dabei, seine Handflächen sind verrußt und er fragt: Was hast du gekauft? ich bemerke, dass ich die Tüte in meiner Hand fest umklammert halte.

Nichts für dich, sage ich und setze mich neben ihn, die Hände noch immer zu Fäusten geballt. Jaron greift nach ihnen und öffnet sie sanft. Ich mag die Halbmonde, sagt er und zwinkert. Ich verdrehe nur die Augen. Aber lächeln muss ich trotzdem. 

 

Ich gehe etwas zu spät nach Hause. Die Straßen glänzen rosalilaschwarzsilbern durch den Regen und die leuchtenden Reklametafeln. Ich schließe die Wohnungstür auf und höre meine Mutter laut am Telefon reden. Dann legt sie auf. 

Ich hab dich gar nicht kommen gehört, sagt sie dann und rauscht an mir vorbei ins Bad, schließt sich ein.

 

Am nächsten Morgen ist sie dann verschwunden.

 

II.

Es dauert nur drei Tage, dann ist sie wieder da. Das passiert oft. So oft, dass ich mich eigentlich daran gewöhnen sollte. Früher hat es mir Angst gemacht, als ich morgens aufgestanden bin und niemand in der Wohnung gewesen ist. Manchmal habe ich noch immer Angst.

Sie sieht total fertig aus, aber ich will nicht fragen.

Sie setzt sich neben mich auf die Couch, ihre Hände liegen schlaff in ihrem Schoß und ich sehe, wie sie zerbricht. 

Ganz langsam. 

Erst zuckt ihr Gesicht etwas und dann sind ihre Wangen ganz nass.

Sie bringt ein paar unverständliche Worte zwischen den Lippen hervor und ich lehne mich zu ihr, will irgendetwas sagen. Ihre Mascara verschmiert, genauso wie ihr viel zu dicker Lidstrich. 

Sie zerfließt gänzlich.

Ich habe auf ihn gewartet, sagt sie. So lange. Er hat gesagt, er kommt wieder. Er wird kommen, diesmal ganz sicher. Er schmeißt alles hin und wir beide werden wieder glücklich sein —

Natürlich. Ich hätte es wissen müssen. Es geht um ihn. Mal wieder. Als er ging, war ich nur ein paar Monate alt. Seitdem ist er eine Leerstelle in meinem Leben, die ich nicht auffüllen will, weil ich nicht wüsste, womit. Wie kann man jemanden vermissen, den man nicht kennt? 

Wie sieht dein Gesicht aus? Wie fühlt sich deine Angst an? 

Einmal, da hat sie ihn ein Axiom genannt. Das war früher, als sie noch Gedichte geschrieben hat und total überschwänglich und romantisch gewesen ist. 

Es war grauenvoll.

Ich war sieben und hab’s nicht verstanden, im Wörterbuch nachgeschaut und das Wort noch weniger verstanden. 

 

Axi·o̱m [das]: Ein anerkannter Grundsatz, eine gültige Wahrheit

 

Wie können Menschen denn wahr sein? 

Die meisten sind doch eher falsch.  

Ich stehe auf und lasse sie so sitzen, sie schreit und schluchzt und schreit noch lauter (doch diesmal kommt der Nachbar nicht, wahrscheinlich hat er es aufgegeben). Ich wundere mich, weil sie mir immer beigebracht hat, nicht über Dinge nachzudenken, die man nicht ändern kann.  Aber wenn es um ihn geht, vergisst sie alles.

Es ist, als ob er die einzige Orientierung in ihrem Leben wäre. 

Als ob es nur ihn gäbe. 

 

III.

Ich treffe Jaron im Café, in dem er immer darauf wartet, dass irgendetwas passiert.

Er sagt, dass er sich hier seine 99ct-Träume kauft, die Kaffees kosten nämlich nur so viel und heißen Dream-Coffee.

Ich setze mich zu ihm und er fragt mich, ob ich heute mit ihm weggehen will. Übersetzt heißt das, dass einer seiner ominösen Freunde wieder etwas zu feiern hat, seinen Geburtstag vielleicht, oder dass heute Freitag und nicht Montag ist und ich denke, ich gehe hin.

 

Jarons Auto ist so klein, dass wir beide kaum reinpassen. 

Überall liegen leere Glasflaschen und alte Mandarinenschalen rum. 

Das Leder riecht nach Tabak und etwas schwitzig, genauso wie er.

Als wir ankommen, sehe ich die Leute, die ich für diesen Abend meine Freunde nennen werde und lächle. 

Sie verschwimmen zwischen dem Nebel, werden alle eins.  

Mit der Zeit bilde ich mir ein, Jaron überall zu sehen, er ist nichts weiter als ein Schemen, nichts Festes und gleitet mir immer wieder durch die Finger. 

 

IV.

Von gestern bleiben mir nur Gedankenfetzen. Ich laufe nach Hause. Mein Atem verwandelt sich in Rauchwolken. 

Kondensierte Einsamkeit.  

Als ich die Wohnung betrete, sitzt meine Mutter auf dem Balkon und trinkt ein Glas Rotwein, obwohl es noch viel zu früh dafür ist. 

Sie lächelt verhalten und ich sehe, dass sie auch für mich gedeckt hat. Ich setze mich schweigend hin und esse. Sie legt ihre Hand auf meine.

Auf dem Weg ins Bad blicke ich in ihr Zimmer und sehe einen Koffer auf dem Bett, in denen wahllos Kleidungsstücke reingeworfen wurden. 

Verreisen wir? frage ich, als ich zurückkomme und sie lacht  über meine Frage und legt dabei den Kopf in den Nacken. Dann tätschelt sie meine Wange und sagt, dass ich heute den Abwasch zu machen hätte. Ich lasse das Geschirr liegen und gehe stattdessen in mein Zimmer. Höre Musik und auch, wie sie den Koffer in den Flur hievt. 

Sie ruft mich.  

Schatz, sagt sie. Willst du ein letztes Mal für mich rennen? 

Ich trete raus, im Hintergrund läuft noch die Musik. 

Und ich würde gerne Nein! schreien, weil ich weiß, was jetzt gleich kommt. Sie nimmt mein Gesicht in die Hände und sagt, dass es so oder so darauf hinausgelaufen wäre. Sie gehöre schon immer zu ihm. Und wieder verbrennt sie mich. Mit jeder ihrer Berührungen wird mehr von mir zu Asche und es macht mir schon lange nichts mehr aus. 

Also renne ich. Ein allerletztes Mal. Ich sehe den Weg nicht richtig, weil mir ein Tränenfilm die Sicht erschwert und falle zwei-, dreimal hin. Als ich am Imbiss ankomme, merke ich, dass sie mir überhaupt nicht gesagt hat, was sie braucht und ich renne zurück. 

Doch als ich ankomme, ist die Haustür nur angelehnt und die Wohnung leer.  

 

Kurz vergesse ich, wo ich bin. Draußen hat es anscheinend angefangen zu regnen. Ich triefe vor Nässe. Ich lasse die Haustür offen und mache mich auf den Weg, um Jaron zu suchen. Ich denke an die Regenbogenfarben unter seinen Augen, an die Halbmonde auf meinen Händen und daran, dass er bis jetzt immer dort gewesen ist, wo ich ihn gesucht habe. 

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V. 

Die nächsten Tage ziehen sich wie ein Kaugummi in der prallen Mittagssonne. 

Abends renne ich die Runden im Stadion, wenn es menschenleer ist.

Ich sehe Jaron beim Angeln zu, wenn die Sonne untergeht. Ich verbrenne das Essen, das ich notdürftig für mich vorbereite. Es ist seltsam nur für eine Person zu kochen. Ich esse alleine auf dem Balkon und stelle mir vor, dass meine Mutter mir gegenübersitzt. Und mit einem Mal denke ich, eine Sache verstanden zu haben: 
Meine Mutter ist eine Einbahnstraße, in der ich mich immer und immer wieder verlaufe, egal wie gut ich sie zu kennen glaube.

 

VI.

Ich sehe Jaron oft und das tut mir gut, auch wenn ich das nie zugeben würde. 

Manchmal schaue ich ihn an und denke, dass ich ihn nicht verstehe und wahrscheinlich nie verstehen werde. Jaron ist wie ein Geheimnis, das oft umerzählt wird, aber niemand wusste so wirklich, ob es stimmt, was gesagt wird; was letztlich wahr und was falsch ist.

Und irgendwie mochte ich den Gedanken. 

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Prosatext aus dem Jahr 2018.

Erschienen in der Anthologie des 35. Treffen Junger Autoren.

Erstmals im Juli 2020 auf dem Rüsselsheimer Kultursommer öffentlich gelesen.

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