Und in mir wütet noch der Sturm letzten Sommers
I: Entstehung
Langsam taue ich auf. Der Winter hat Spuren hinterlassen.
Tiefe Schürfungen lassen nur Oberflächliches erahnen.
Mit dem Sturm kommen die Gedanken und wirbeln alles um und in mir herum auf.
Weißt du was witzig ist? Früher haben wir Filme gesehen und dumme Gedichte geschrieben und gedacht, dass das das Leben sei. Dass das alles Dinge sind, die man kennt. Als ob du dir jemals sicher sein könntest.
Als ob du die Wahl hättest. Als ob du jemand wärst.
Und ich würde gerne fliehen, wüsste ich wohin. Aber ich kenne keinen besseren Ort als den, wo ich gerade bin.
Ich kann hören was du nicht sagst.
Vielen Menschen reden viel und der Tag ist noch lang und die Nacht noch länger, also lasst uns das Beste draus machen.
Wann hast du angefangen, gute Gefühl von Bedingungen und Ereignissen abhängig zu machen?
Was würdest du gerne ändern?
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Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für ihre Teilnahme. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass alles, was Sie denken, frei zugänglich ist.
Drücken Sie die 1, wenn Sie damit einverstanden sind, dass alles, was in diesem Raum geschieht, überwacht wird.
Drücken Sie dir Raute-Taste, wenn Sie darin einwilligen unangenehme und indiskrete Fragen gestellt zu kommen.
Natürlich ist es unser Anliegen, dass die Daten unserer Teilnehmer geschützt werden und weisen daher auf unsere AGB hin. Wir möchten Sie auch darauf hinweisen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Ihnen nicht gefällt, was Sie hören.
Wir bitten nicht um Entschuldigung, Sie haben sich selbst für die Teilnahme entschieden.
Vielen Dank.
II: Erkenntnis
Guten Tag, ja vielen Dank, ich habe mich wirklich über die Einladung gefreut.
Name XX. Alter YY. Familienstand: Z Qualifikation: Sonderzeichen ? Eignung: Sonderzeichen ?
Meine Stärken?
Ich bin teamfähig und belastbar. Empathisch, geduldig, stets freundlich. Ich füge mich gern ein und bin prinzipiell gut darin so zu tun als ob ich jemand anderes wäre. Ich denke das zählt als wandelbar.
Ich bin stets auf Situationen vorbereitet. Ich übe das oft vor dem Spiegel.
Welche Situationen genau? Alle möglichen.
Wenn ich von hinten wieder eine Berührung beim Vorbeigehen bemerke und denke, dass ich mir das nur eingebildet habe.
Sie müssen wissen, ich habe eine blühende Fantasie und ich bin sehr kreativ darin mir Begebenheiten so auszuschmücken, wie sie letztlich für mich passen.
Und ich bin auch gut im Rechtfertigen eigener Gefühle und Empfindungen und nein das ist nicht dasselbe.
Ich bin auch ziemlich gut darin, bestimmte Untertöne zu überhören, die finden Sie oft in Witzen oder Sprüchen, die eigentlich nur so von sexistischem Mist triefen und oh, das war ja gerade ein Kraftausdruck und das ziemt sich nicht, tut mir leid, sind nur wieder die Hormone.
Und meine Uhr?
Tickt auch nicht, nein überhaupt nicht, nur die Zeiger verformen sich mit der Zeit und verrosten, fallen ab.
Und wenn es sein muss, dann schlage ich die Zeit tot, bis sie kümmerlich am Boden liegt.
Ich bin allzeit zu jedem bereit und ich nörgle nie, nein nicht ein einziges Wort. Ich war noch nie wütend oder aufgebracht. Ich meine, wer will schon eine Furie sein, Sie etwa?
Man muss ja auch professionell sein und ich weiß sogar, wie man das schreibt, Professionalität ist ein schwieriges Wort, schwierig zu schreiben und noch schwieriger auszuleben.
Jetzt im Moment?
Danke dass Sie fragen. Um ehrlich zu sein gehts mir blendend, immer, (nein) eigentlich fantastisch und sonst auch, ich weiß nicht mal, was PMS ist und auch nicht, wofür diese Abkürzung überhaupt steht. Wenn man mich fragt, dann weiß ich auf alles die Antwort und wenn nicht, dann finde ich eine Weg zur Antwort.
Ich übersehe gerne, dass flexible Arbeitszeiten nichts anderes bedeutet als Überstunden zu schieben, und ich schiebe gerne, in Sport hatte ich in der 7. Klasse mal eine Eins und das sagt ja natürlich sehr viel über mich aus, nicht war?
Meine Schwächen?
Ich denke, die Tatsache, dass ich den Satz oft mit einem ,,Ich weiß nicht’’ oder ,,Keine Ahnung’’ beende, dabei habe ich Ahnung, ich hab sogar sehr viel Ahnung. Von allem eigentlich.
Ich möchte, dass man mir zuhört und nicht, dass man mich anstarrt.
Was noch interessant sein könnte?
Ich verrenne mich gern in meine eigene Floskeln und in meinem Kopf hört sich alles meistens viel besser an als wenn ich es ausspreche.
Also: Wann kann ich anfangen bei Ihnen?
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III: Abklang
In meinem Leben habe ich mich oft verdrückt. Die falschen Tasten gewählt, einen Anruf abgewartet, der nie kommen wird. Ich habe gedacht, ich könnte stemmen, was ich tagtäglich mit mir rumschleppe.
Gib mir meine verlorenen Tage wieder. Das bist du mir schuldig.
Seit Jahrzehnten bin ich wütend. Außer Kontrolle.
Dabei habt ihr doch den Zorn erfunden. An uns bleibt nur die Hysterie haften.
Heute bin ich stumm und überhöre Dinge, die eigentlich wichtig sein sollten. Ich übersehe …
Ich fahre Zug und übe das Mich-selbst-einquetschen und das Wegschauen, Dinge, die man nicht sehen will und so tun, als ob es normal wäre, dabei ist es das nicht, aber ist in Ordnung ein Schritt hinter den anderen, nicht in die Augen schauen, und einfach laufen und laufen und laufen und rennen, und rennen, und rennen, renn, renn, renn, bald ist es dunkel. Und den letzten fressen die Wölfe.
Ich blicke in den Spiegel und sehe die Schatten unter meinen Augen. Über ihnen liegt Schnee und wenn man genau hinsieht dann ist es schon wieder Herbst bevor der Schnee geschmolzen ist.
In mir wütet noch der Sturm letzten Sommers, der mir dir Haut von innen verbrennt. Die Blätter wirbeln in mir, der Strudel wächst und ich werde währenddessen immer kleiner und kleiner, bis ich mich nicht mehr sehen kann.
Mit der Zeit klingt er ab, hier und da liegt noch Geäst und lässt eine Spur erahnen.
Manchmal kommt jemand vorbei und will sich erinnern, aber man steckt nur die Köpfe ineinander und läuft schnell weiter. Erinnerungen verkommen. Schon bald ist es wieder Frühling.
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Öffentlich erstmals in den Räumlichkeiten des Opel-Altwerks in Rüsselsheim am Main im Jahr 2022 gelesen.